Das Virus in der Sick Society

Von Lukas Meisner


Was seit dem Beginn der Coronakrise evident wird, ist genau das Unzureichende unserer Vorstellungskraft für die Wirklichkeit. Das Virus ist Teil der realen Abstraktion in kapitalistischen Logistiken. Es ist nicht wahrnehmbar und wird doch überallhin getragen. Wie Fremdenfeindlichkeit Projektion des Problems – aus Angst vor verstehender Konfrontation mit ihm – auf das sicht- und damit fühlbar Andere ist, so konnte Covid-19 nur entweder Indifferenz oder Panik (oder deren paradoxe Kombination) auslösen, eine der beiden Modi des Weltbezugs heute, die beide notwendig verzerrt sind. Das Virus ist so unsichtbar wie das Kapital, und wie das Kapital sich verbreitet, so auch das Virus. Die Viralität des grenzenlosen Wachstums, der Expansion in Zeit und Raum, der Beschleunigung und Kolonisierung ist Kapitalismus. Entsprechend ist das Virus die um sich greifende Krankheit als global monadologisierende Symptomatik einer sick society, deren Ärzte an Medizin nicht mehr glauben. Mit dem Begriff der kranken Gesellschaft ist unterstrichen, dass die immanent-kathartischen Momente von Krise, Kollaps, Crash nicht Heilung sein können – ohne dass damit Abnormalität, Disordnung, Devianz zu Sündenböcken zweiten Grades verfälscht würden. Sick society benennt ein Phänomen auf eine Art, die Abweichung am meisten schätzt, indem sie diese von der kapitalistischen Krisenperpetuierung und deren unzweideutiger Katastrophentendenz lossagt. Ohne dieses Lossagen ist keine ökologische Imago der Differenz mehr möglich, die frei wäre von suizidalen Identifikationen mit dem Aggressor.