30 Jahre Ende der Geschichte – ein Resümee: Zur Denkmalpflege der Mauer im Kopf

von Lukas Meisner


3. Oktober, 9. November, Ende 2020: das Feiern kommt vorläufig an ein Ende. Doch bis heute klingeln uns die Ohren von den springenden Sektkorken zum deutsch-deutschen Jubiläum. Zusammengewachsen sei, was zusammengehöre: das ökonomische Diktat des Wachstums mit einer Politik, die sich als dessen düngenden Gärtner versteht. Was aber gab es da zu feiern? Man nennt es „Fall der Mauer“ und „friedliche Revolution“, obszön fetischisierte Begriffe, die unbegriffen bleiben in besoffener Apologie. Denn „Wiedervereinigung“ war de facto Beitritt, Anschluss, feindliche Übernahme. Das klingt nur weniger schön, weil es weniger beschönigend ist. Seit soziale Kälte weht als „wind of change“ müsste gemahnt werden, dass der „Fall der Mauer“ laissez-faire-politisch erzwungen, und dass „friedliche Revolution“ im Eigentlichen Konterrevolution von oben war – also „von drüben“. Von dort, heißt das, wo der wilde Westen wildert: wo es weiter wenig Neues gibt, weil das Neue sich auf den Konjunkturzyklus herabgekürzt hat. Seither ist es die “Einheit”, die weiter entzweit, und die „Wende“, die wenig mehr ist als Entwendung politischer Hoffnung. Wendung gen Westen allerdings war die Wende allemal, eine Westung, die manchem Wendehals, manchem ostungsvergessenen Pfaffen, mancher Pfarrerstochter bis an Staatsspitze verhalf. Immerhin ihnen.

Dabei ging man 1989 nicht auf die Straße, um die DDR zu verscherbeln. Sondern man ging auf die Straße, um zu demonstrieren, dass Sozialismus ohne menschliches Antlitz überhaupt kein Sozialismus sein kann. Wer es ernst nahm als anti-bourgeoise Bürger*in der Deutschen Demokratischen Republik hatte gegen die deutsch-deutsche Schießerei an die Internationale zu erinnern, an das marxistische Versprechen des Endes sowohl von Staat wie von Arbeit sowie daran, dass die Sache des Volkes – res publica – nicht anders denn als radikaldemokratische umzusetzen sei. Das alles war aber das Gegenteil davon, dem Kapitalismus in die Arme fallen zu wollen. Auch, wenn es inzwischen so porträtiert beziehungsweise so parodiert wird.

Freilich wandelte man sich, auf der Straße abgelichtet, augenblicklich zum Propagandamaterial eines Regimes, dessen Antikommunismus nichts so verabscheute wie die eigenen Ideale. Entsprechend war es zwar für viele nicht das Ziel gewesen, die „Sicherheit des Staates“ (Stasi) gegen die „Freiheit des Marktes“ (Neoliberalismus) einzutauschen – doch geschah genau dies. Und das ist auch kein Wunder. Freiheit mit Markt gleichzusetzen ist erstes Gebot des Liberalismus. Ein Gebot, das im Überangebot des Kommodifizierens bis heute verpackt wird zum Werbegeschenk der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“. Dabei hätte von Anfang an klar sein müssen, dass die repräsentative Wahlurne des Westens nur eine der Filialen des präsentistischen Warenfetischs ist. Wer 89 auf der Straße jedoch mehr wollte als Bananen und bananenrepublikanische Verschleuderung der Politik – wer demokratischen Sozialismus wollte, statt sich einpacken zu lassen vom Konsumerismus –, der wurde nach Strich und Faden belogen und betrogen.

Daran kann kein Zweifel sein. Ist doch eigentlich bekannt, ja, bekannt bis zum Überdruss, bekannt zu einem Grad, der übersehen lernt, was das bedeutet, was da bekannt sei: dass die „Währungs- und Wirtschaftsunion“ die Einführung des Euphemismus „soziale Marktwirtschaft“ mitsamt bundesdeutscher „D-Mark“ inklusive Beitritt zur NATO verhieß. Oder sagen wir es anders. Die entwendende „Treuhand“ als Zwangsenteignung der Bevölkerung und der Soli als innerdeutsche Entwicklungshilfe zur Absatz-Subventionierung haben die ehemalige DDR zum Billiglohn- und Konsumland heruntergewirtschaftet. Daran ändert man nichts, wenn man den desolaten Zustand des „Ostens“ bis heute anachronistisch der zentral gesteuerten Misswirtschaft der Fünfjahrespläne anlastet. Man ändert so nichts, man hängt nur eine weitere Lüge an – an den Karren im Mist.

Der Westen also, in Ermangelung der Systemkonkurrenz, konnte sein Kapital seit 89 ungestraft von der Leine lassen. Die verheerende Wirkung dieser Entfesselung lässt sich auf dessen eigenen Prämissen nachverfolgen. Die Ungleichheit in der bundesdeutschen Bevölkerung zu kaschieren vermochte seither nur der Habitus des nach außen gekehrten „Superwessis“, der sich jede Kritik von Seiten des inneren „Jammerossis“ selbst und selbstverständlich verbietet. Das berüchtigte „Tauwetter“ tränkte eben nicht „blühende Landschaften“, sondern ertränkte die Hoffnung auf eine Welt, die nicht vom Profitgesetz erpresst wird. Und es ertränkte nicht in politischer Liberalität – sondern in den Strömen des Kapitals. Die Totschlagworte westlicher public relations von Freiheit und Pluralismus schaffen es trotzdem, darüber hinwegzutäuschen, dass die polit-ökonomische Kolonisierung jeglicher Alternative durchs Kapital eine grenzenlose, weltweite Einsperrung der Menschheit im eisernen Käfig des Kapitalismus war – ohne Exiloption, wohlgemerkt. Seither gibt es keinen Ort mehr, nirgends, an dem es anders wäre (natürlich auch in China und co. nicht).

Was aber gibt es stattdessen – im Agitprop des Kapitals seit 89? Was gibt es außer dem „Fall der Mauer“ und der „friedlichen Revolution“, neben „Wende“ und „Einheit“? Na eben: das „Ende der Geschichte“ gab und gibt es! 30 Jahre Wiedervereinigung sind damit gleichsam 30 Jahre Ende der Geschichte, wodurch das Verenden der Zukunft wie der Gegenwart verständlicher werden dürften. Was die letzten Dekaden schließlich durchgesetzt wurde, war „zweite Natur“, die die erste weiter vor die Wand fährt, und zwar global. Die provinzialisierende Mauer geht trotzdem weiter durch die Köpfe, nur inzwischen vom Westen verwaltet. Dem „Wessi“ von Welt ist schon lange geläufig, dass der Osten eine Art Eintopf ist aus Plattenromantik, Stasiterror und Nazipogrom. Weniger dramatisch ist ihm dieser „Osten“ so etwas wie Soljanka in Graustufen auf kariertem Igelit: eine Art Melting Pot des Antiquierten. Längst verdrängt wurde da, dass „Ost“ und „West“ politische statt geographische Kategorien sind – Wien liegt östlicher als Dresden, München östlicher als Erfurt; Russland grenzt im Westen an die USA, nicht im Osten. Dass „Ost“ und „West“ politische Kategorien sind heißt, dass sie ideologische Kategorien sind: zum Beispiel, um das Konstrukt „offene Gesellschaft“ gegen seine Feinde – etwa die Realität – zu verteidigen. Schon der Begriff „ostdeutsch“, in aller Munde im „Westen“, wo man trotzdem nicht „westdeutsch“ spricht (außer vielleicht in Bonn?), verweist auf die Denkmalpflege der Mauer hinter den Stirnen. Der Kalte Krieg sedimentiert also weiter in der Sprache. Das Deutsche kennt mittlerweile einen Dialektchauvinismus, der etwa den Bayern besonders stolz auf seinen Dialekt sein lässt, während sächsisch für objektiv blöd gilt.

Dabei verweist die sublimierte Freude am Todesstreifen vielleicht auf tieferliegende Kulturschichten. Der Verfasser hat es selber miterleben müssen: „Ossi“, das wirft man sich auf den schwäbischen Provinzpausenhöfen der Privatschulen bis heute so selbstverständlich hetzerisch an den Kopf wie sonst nur – „Zigeuner“ (o.ä.). Es bedürfte nur eines marginalen Perspektivwechsels, um das Licht einmal zurückzuwenden vom Prügelknaben „drüben“ als Neonazizone, damit wahrnehmbar würde, dass hier eine Projektion am Werk ist, die ihrerseits einem Rassismus entspringt – der nicht unrassistischer wird, nur weil er dem Kalten Krieg entlehnt ist. In dessen Ost-Phobie denn gibt es tatsächlich Anschlussstellen zu älteren, klassischer abendlandbesorgten Rassismen; und genau diese Parallele verfolgte ich im hölderlinschen Neckartal in einer Klientel, die zwischen CDU und NPD schwankt (meist klassenspezifisch gewürzt mit Bündnis-90-grünen Ingredienzen). Der Deutsche liebt eben Wahlverwandtschaften, und sein innerdeutscher Rassismus wird nur ihm selbst so unvermittelt nachvollziehbar bleiben, dass er ihn ungefragt fortführen kann bis ans Ende seiner Tage. Aber seien wir fair. Ein Land, das kein halbes Jahrhundert nach seiner Gründung den ersten Weltkrieg anzettelte, um in kürzester Zeit mit Umwegen über Monarchie, Republik, Faschismus und die Schizophrenie des Kalten Krieges durch den Triumphbogen des Kapitals zu marschieren, kann vermutlich nur aus selbstüberfragten Opportunisten bestehen.

Das hindert freilich keinen „Wessi“ von Welt, die Nase zu rümpfen über „den Osten“ als Neonazizone. Dabei hat man sich einvernehmlich renationalisiert seit der bierdeutschen fahnenschwänkenden nationalhymnischen WM 2006. Da wurde, unter Bertelsmanns Koordination – von oben, von drüben: unter westdeutscher Hegemonie – kerniges Marketing gemacht für Nationalismus, denn erinnern wir uns: „Du bist Deutschland“. Dass der Spruch schon unter Hitler über den Köpfen auf den Bannern stand, schien nicht weiter zu stören. Auch interessiert, wenn der „Osten“ mal wieder als Skinhead-Brutbecken dargestellt wird, nicht, dass es die durchorganisierten westdeutschen Neonazi-Kader waren, die den Osten in Richtung seiner „Wende nach rechts“ demagogisierten. In Folge wurde es ein Leichtes, das republikanische „wir sind das Volk“ ins nationalistische „wir sind ein Volk“ umzudichten. Aber all das bleibt uninteressant. Es passt halt einfach zu gut ins liberale Weltbild, dass, wo einst der „Unrechtsstaat“ von oben installiert war, der „Totalitarismus“ heute von unten fortgesetzt wird. Strukturelle Ursachen kann das Ganze sowieso nicht haben: warum sollte man auch einen Zusammenhang herstellen dazu, dass es weiterhin keine gleichen Löhne oder Renten gibt in Ost und West, oder gar dazu, dass Wirtschaft, Politik und Medien (von Presse bis Rundfunk) ausnahmslos in westdeutscher Hand sind? Das alles ist zwar handgreiflicher als Bourdieus „feine Unterschiede“. Trotzdem fühlt sich keiner verschaukelt, dass etwa Medienkritik intermedial eine Branche ist, die inzwischen großenteils der Rechten überlassen wird.

Letztlich dient die Herabdampfung „des Ostens“ zur Neonazizone wohl vor allem dazu, dem grün-konservativen „Superwessi“ die Rohkost nicht zu vermiesen – sein Ekel vor der Armut „drüben“ ist nämlich angewiesen auf das moralische Polster liberaler Argumente. Der Osten ist arm, und Armut ist nicht sexy, selbst oder gerade in Berlin nicht. Entlang dieser Linie wird die Mauer in den Köpfen täglich neu restauriert. Mancher Kosmopolit des transkontinentalen Reisens, der „in der Nachbarschaft“ (in Italien oder Frankreich) sein Ferienhaus hat, setzte die vergangenen drei Jahrzehnte nicht einen Fuß in die „neuen Bundesländer“ – und falls doch, so nur geschäftlich. Die zweite Welt ist schlicht weniger exotisch als die dritte, genauer: sie ist deprimierend unbunt. Dergleichen Reiseboykott bleibt aber doch erstaunlich, wenn man bedenkt, dass dem Kapital seit seiner strukturellen Rezession in den 70ern und dem eingeführten Alibi des Servicesektors sonst primär der Tourismus blieb – zumindest in jenen westlichen Regionen, die über wenig Industrie verfügen. Der „Osten“ bildet auch hier die Ausnahme. Das heißt so viel wie: wenn es etwas gibt, das übers Profitinteresse obsiegt, dann die Logik des Kalten Krieges dreißig Jahre nach Mauerfall. Im grauen „Osten“ hat man die Bürgersteige schließlich wirtschaftspolitisch – von drüben – seit der „Wende“ hochgeklappt. Damit bekommt, was die AfD verkündet, nämlich dass sie die „Wende vollenden“ wolle, ungewollt etwas Adäquates. Die „Vollendung der Wende“ und neoliberale Wirtschaftspolitik sind am Ende ein und dasselbe; die „Alternative“ für Deutschland ist von der thatcheristischen „Alternativlosigkeit“ des Sozialabbaus untrennbar. Während man das Gebiet der ehemaligen DDR, mit Ausnahme einiger Universitätsstädte, über die letzten dreißig Jahre strukturell ausbluten ließ, sodass ganze Städte schwanden, stampfte man im Westen reihenweise Einfamilienretorten aus dem Boden. Eine beidseitige Verelendung. Die resultierende postmoderne Wüste der Suburbanisierung rings um alle westlichen „Metropolregionen“ ist Nebenprodukt des logistischen Unternehmens, die Zentren mit der Ware Arbeitskraft noch aus den eigenen Peripherien zu beliefern. So hat man im Westen Menschenansammlungen, die in architektonischer Geschichtslosigkeit hausen, und im Osten Geschichte in meterhoch geschichtetem Stein, woraus die Menschen weichen auf der Suche nach Einkommen. Wenn das mal keine Dialektik des Kapitals ist, was dann.

Damit aber ganz im Reinen ist und bleibt „der Osten“ als Bittsteller der Alten und „Bildungsfernen“, als Hort der Armut und der Ohnmacht noch oder gerade für den akademischen Öko-Hedonisten der westlichen „neuen Linken“ ein unattraktives Pflaster. Entsprechend betont selbst die radikalere Linke auf dem Gebiet der Theorie, dass sie postmarxistisch sei, wenn nicht gleich auf dritten Abwegen in die Sackgassen der Realpolitik. Und selbst Marxist*innen stellen klar, dass sie westliche Marxist*innen seien, denn im Osten sitzt – so viel ist bekannt – die Orthodoxie und frisst ihre Kinder. Kurz, marxistischer Antikommunismus, ein Doublethink, das Orwell beeindrucken würde, gehört zum ganz normalen Wahnsinn „deutscher Einheit“. „Ostalgisch“ wird damit schon, und selbst der sogenannten Linken, wer davon spricht, dass „nicht alles schlecht gewesen“ sei in der DDR – als ließe sich eine solche Aussage anders als borniert bestreiten. Oder wer wollte behaupten, dass sichere Jobs, Renten und sozialer Wohnungsbau, kostenloses Gesundheitssystem und unentgeltliche Kinderbetreuung sowie allgemein weniger Konkurrenz- und Leistungsdruck rundherum und ausnahmslos als schlecht zu gelten haben?

Wohl niemand – oder? Für solches Behaupten braucht es schon, sagen wir, eine „Erinnerungskultur“ à la Wolf Biermann. Der beweist seit Jahrzehnten, dass es der Reputation einst aufgeweckter Leute nur schaden kann, wenn sie sich überleben. Wer so zum Kanon wird, wird zur Kanone, die alles beschießt aus ihrem Palast der Republikflüchtigen, was noch eigene Wege geht. Doch auch im Alter muss man seinen Dissidentenstatus von anno dazumal ja nicht dazu missbrauchen, sich und seinen neu errungenen Konformismus zu besingen. Ganz so bequem sollte es sich keiner machen dürfen im Ruf des Unbequemen. Gab es doch auch wirkliche Dissident*innen, die sich bis heute zurecht verraten fühlen. Wenigstens ein Teil der Bürgerbewegung 89 war schließlich nicht ferngesteuert vom falschen Bedürfnis nach Verdinglichung, sondern wollte – endlich – gemeinsam selbstbestimmt leben, demokratisch und solidarisch, über Entfremdung und Ausbeutung hinaus.

Dieser Teil forderte einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, denn er wusste (wider alle sozialdemokratischen Reformismen), dass es keinen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz je geben kann. Und das schlicht, weil er eine contradictio in adiecto wäre. Spätestens seit Shoshana Zuboff das zeitgenössische globale System auf den Begriff surveillance capitalism gebracht hat, sollte gegen alle ideologische Gaucklerei klar sein, dass selbst der Dilettantenverein der Stasi unendlich verblasst im Kontrast zum globalen Überwachungsregime des Kapitals. Dahinein aber haben uns dreißig Jahre Wegfall der Systemalternative geführt. Was der 3. Oktober somit in erster Linie markiert, ist der Verrat an einer Bürgerbewegung, die den Kommunismus zurückwollte vom Staatskapitalismus. Stattdessen bekam sie einen nicht nur deutschland- und europa-, sondern weltweiten Kapitalismus aufgezwungen, der ausbeuterischer ist selbst als seine früheren westeuropäischen Versionen. Wer diesen Coup allerdings verurteilt, gilt mittlerweile als „ostalgischer Wendeverlierer“ und „Wutbürger“, denn dem „Ossi“ wurde der „autoritäre Charakter“ tief ins Seelenleben eingespitzelt, so viel weiß man.

Lassen wir, allen Ostalgikern und ewig Gestrigen zum Trotz, die Sektkorken also weiter fliegen in die eigenen Augen. Auch die kommenden Feiertage „deutscher Einheit“ hindurch. Denn was sollte man zelebrieren im großen Stil, wenn nicht die ewige Wiederkunft des Endes der Geschichte?




Ein Auszug aus diesem Artikel ist auch erschienen auf taz Blogs Freiraum:

https://blogs.taz.de/freiraum/drei-dekaden-denkmalpflege/