Corona, der Krieg und die Falle kapitalistischer Aufmerksamkeitsökonomien

Ein Plädoyer gegen die Eilmeldung

 

von Fenna Hülsemann

 

Einen guten Monat nach Kriegsausbruch hat sich die Berichterstattung über das allgemeine Weltgeschehen in den großen Tages- und Wochenzeitungen sichtbar geändert: Globale Geopolitik rund um den Kriegsausbruch löst das Corona-Virus als Nachrichtenfavoriten ab. Nimm man genauer unter die Lupe, wie sich die medialen Aufmerksamkeitsökonomien westlicher Gesellschaften in den letzten zwei Jahren entwickelt haben, ist diese Veränderung keineswegs banal: Wenn es um den Krieg geht, kann die politische Aufmerksamkeit der Leser:innen nicht mehr durch Eilmeldungen und dringende Mitteilungen gebunden werden. Was sagt uns das? Es sagt uns, dass unsere Gesellschaft wieder mehr Aufmerksamkeit für Argumente braucht. 

Denn: Wenn Pluralität wieder einmal bedeuten soll, dass ein offener Austausch über das Kriegsgeschehen zu einem diskursiven Identitätskrieg mutiert, droht der konstruktive Aspekt der demokratischen Debattenkultur zusammenzubrechen. Die Spaltung zwischen verschiedenen Identitäten ist im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg schon zu beobachten: Die einen fordern eine militärische Intervention seitens der NATO, die anderen werben für deutsche Ab- statt Aufrüstung, dritte fordern den unkonkreten Weltfrieden, und schließlich kommen auch Bundeswehrfanatiker:innen wieder zur Sprache (und das nicht gerade leise). In der Linken wird man sich immerhin noch darin einig, dass die Wiedereinführung der Wehrpflicht nur ungern gesehen ist.  

Doch es gibt auch Hoffnung in der identitätspolitischen Misere. Beispielsweise kann es unserer Debattenkultur heute zugutekommen, dass die Grundsatzdiskussion um die Pandemie-Bewältigung bereits von Kriegsthemen verdrängt wurde. Immerhin muss das sozialpolitische Rätsel der Spaltung zwischen „Vernunftmensch“ und „Querdenker“ in ihren Einzelheiten nicht mehr öffentlich thematisiert werden. Sofern man Deutschland ausnahmsweise mal als Gesellschaft vereinheitlichen darf, scheint das niemanden zu stören: Der öffentliche Aufschrei darüber, dass die Regierung ihre pandemische Biopolitik schrittweise zurücknimmt, bleibt größtenteils aus. (Fast) niemand geht demonstrieren, um den Umgang der Ampelkoalition mit dem Coronavirus zu kritisieren. Und selbst Christian Drosten hat keine Lust mehr, Deutschlands Corona-Pädagoge zu sein, und beendet seinen Podcast. Was bedeutet dieser inhaltliche Umschwung medialer Aufmerksamkeitsökonomie für die öffentliche Handhabung des Krieges?  

Zunächst sollte man sich das komplizierte Verhältnis unserer Demokratie zur freien Presse in Erinnerung rufen. Dieses Verhältnis ist nun einmal kompliziert, und durch den Aufschwung des Online-Journalismus ist es noch komplizierter geworden: Die Zunahme digitaler Inhalte gegenüber Print-Inhalten war schon vor der Pandemie in vollem Gange, hat sich aber noch einmal verstärkt, als in den letzten zwei Jahren die User-Zahlen von Social Media Plattformen pandemiebedingt in die Höhe geschossen sind. Um eine konstruktive Debattenkultur von heute zu fördern, kommt man nun nicht umhin, diese Entwicklung kritisch zu hinterfragen: 

Zwei Jahre lang wurden soziale Plattformen in beinahe stündlichem Rhythmus mit Daten, Fakten und Informationen zum Coronavirus bespielt. Leser:innen waren jederzeit mit neuen, kurzfristig gepushten Informationslagen zur Pandemie konfrontiert. Der Star journalistischer Formate war (insbesondere zu Pandemiebeginn) die Eilmeldung: Wenn Merkel, Spahn oder Wieland vor die Kamera traten, häuften sich auf den Smartphone-Displays die Pushnachrichten und auf den Websites die roten Punkte. Vor der Pandemie mussten selbst große Zeitungshäuser ihre Online-Präsenz aufwändig gegen Influencer:innen, YouTuber:innen und Tiktoker:innen verteidigen. Mit der Pandemie konnten sie die IT-Strukturen von Social Media schließlich nutzen, um dringende Meldungen in Windeseile an ihre Leser:innen zu verbreiten.  

Wenn man als Demokratin, Philosophin und Linke mal ganz ehrlich ist, ist das nur in Teilen eine begrüßenswerte Entwicklung, denn die Leserschaft der freien Presse ist heute mehr denn je von Informationsüberladung und Überreizung geplagt. Es sollte daher niemanden wundern, dass das Fortschreiten der Digitalisierung nicht nur demokratieförderlich ist, sondern den Intellekt des Demos mitunter begrenzt: Durch die Gewöhnung an Eilmeldungen und Pushnachrichten haben sich in den letzten zwei Jahren statt einer argumentativen Debattenkultur identitätspolitische Kriege zwischen unterschiedlichen Positionen etabliert, die den offenen Umgang mit Meinungsverschiedenheiten begrenzen oder gar unmöglich machen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Spaltung zwischen Impfbefürwortern und Impfgegnern: Beide Seiten treten selten in ein offenes Gespräch miteinander. Sie bezeichnen sich stattdessen lieber als Lügner, Verschwörungstheoretiker oder Verantwortungslose und verschließen sich gegen die Argumente der Gegenseite. Sieht so Demokratie aus? 

Mit dem Kriegsausbruch ist es jedenfalls mehr denn je zur Aufgabe der freien Presse geworden, die demokratische Öffentlichkeit bedacht an existenzielle Themen heranzuführen. Ihre Zielgruppe ist die Gesellschaft von gestern, deren politische Alarmbereitschaft über zwei Jahre durch kurzfristig gepushte Informationshäppchen ausgeschlachtet wurde. Diese Gesellschaft muss jetzt damit zurechtkommen, dass statt eines mikrobiologischen Krieges ein echter, materieller Krieg in Europa herrscht. Das ist ein harter Brocken. 

Der demokratischen Debattenkultur kommt es vielleicht zugute, dass sie sich in den letzten zwei Jahren schon intensiv mit Leben und Tod auseinandersetzen musste. Vielleicht hat der jahrelange Alarmzustand aber auch viele Leute abgestumpft, die zum Frühlingsbeginn nichts mehr von Tod und Schrecken hören wollen. So oder so darf es in der Auseinandersetzung mit dem Krieg nicht ausbleiben, zwischen verschiedenen Realitäten und Blickwinkeln zu differenzieren. Es muss daher auch erlaubt sein, den Krieg als das schlimmere Phänomen vor der Pandemie einzuordnen. Es muss erlaubt sein, vom Krieg schockierter zu sein als von der Ausbreitung des Corona-Virus. Und es muss erlaubt sein, den Krieg als Nachrichtenthema zu priorisieren. Wer noch über die Pandemie sprechen muss, der sollte jetzt mit der Nachbereitung der Fehler anfangen, die den Demokratien in den letzten zwei Jahren unterlaufen sind: Davon gibt es einige.  

Im Sinne der Gleichberechtigung ist es geboten, die Perspektive derjenigen zuerst mit einzubeziehen, deren Alltag durch den Krieg effektiv zusammenbricht – zu dieser Gruppe gehören Impfbefürworter wie Impfgegner. Es ist daher ebenfalls geboten, die Standpunktlogik von „Vernunftmensch“ vs. „Querdenker“ öffentlich aufzubrechen und wieder empathischer für die Gegenseite zu werden. Es ist auch geboten, eine Meinung zu haben, die aus einem alltäglichen Lebensgefühl resultiert. Genauso ist es geboten, einer solchen Meinung zu widersprechen, wenn man eine andere hat. Eine demokratische Debattenkultur muss das abkönnen – denn ein offener demokratischer Austausch bringt Widersprüche hervor, die Ausdruck seiner Freiheit sind. 

Schließlich ist es sowohl erlaubt als auch geboten, dass die digitalisierte Leserschaft sich wieder an längere Texte gewöhnt. Denn um zu verstehen, wie NATO, EU, USA, Russland, Ukraine und Deutschland miteinander zusammenhängen, reicht das alarmierte Lesen von Eilmeldungen einfach nicht aus. Es braucht jetzt die Bereitschaft in der Gesellschaft, Argumente nachzuvollziehen und selbst zu formulieren. Diese Fähigkeiten sind für die Freiheit der demokratischen Öffentlichkeit überlebenswichtig. 

Auf inhaltlicher Ebene muss es „Deutschland“ spätestens jetzt wieder um die materiellen Themen gehen, also um die Organisation des alltäglichen Lebens angesichts einer fundamentalen geopolitischen Krise, die alle sozialen Schichten betrifft. Es ist notwendig, jetzt sehr viel über Wirtschaft zu sprechen, ohne dabei diejenigen auszuschließen, die von wirtschaftlichen Maßnahmen am ehesten betroffen sind.