Geschichtsunterricht für capital natives. Vergegenwärtigt in Zeiten von Corona


veröffentlicht 07.04.20 

von Theresa Walter



I


„Die größte Krise seit dem zweiten Weltkrieg.“

Wort für Wort, Satz für Satz, Schlagzeile für Schlagzeile.


Unendlich viel Zeit, um sie alle zu lesen.

Viel zu wenig Zeit, um auch nur eine Schlagzeile, einen Satz, ein Wort zu begreifen.


Probieren wir es trotzdem noch einmal.

„Die größte Krise seit dem zweiten Weltkrieg.“


Noch einmal.


„Die größte Krise seit dem zweiten Weltkrieg.“

„Die größte Krise seit dem zweiten Weltkrieg.“

„Die größte Krise seit dem zweiten Weltkrieg.“


Wort für Wort.

Satz für Satz.

Schlagzeile für Schlagzeile.


Die

größte

Krise

seit

dem

zweiten

Weltkrieg

.



II


„Die größte Krise seit dem zweiten Weltkrieg.“ Wort für Wort, Satz für Satz, Schlagzeile für Schlagzeile: ++ China ++ Händewaschen ++ Italien ++ 30 Sekunden ++ Happy Birthday ++ Deutschland ++ Schulen Universitäten Theater und Bars schließen ++ Hust- und Niesettikette einhalten ++ Quarantäne ++ Social Distancing ++ Frankreich Spanien USA ++ Kontaktsperre ++ 1, 5 Meter ++ Nudeln und Klopapier ++ globale Pandemie ++ die Lebensmittelversorgung ist gesichert ++ Hamsterkäufe sind nicht notwendig ++ Mehl Zucker Nudeln ++ Klopapier Klopapier Klopapier ++ Deutschland ++ Homeoffice ++ Wirtschaftskrise ++ die systemrelevanten Berufe ++ Landkreis Heinsberg ++ Nordrhein-Westfalen ++ Baden-Württemberg ++ Bayern ++ Berlin ++ #wirbleibenzuhause ++ Hamsterkäufe sind asozial ++ der DAX ist wieder gesunken ++ die Zahl der Neuinfizierten ist gestiegen ++ Ausgangssperre ++ Social Distancing ++ wir werden das Verhalten der Bevölkerung am Wochenende sehr genau beobachten ++ der Samstag wird ein entscheidender Tag sein ++ Wuhan ++ Oliver Pocher hat Corona ++ Südkorea ++ Händewaschen ++ Ausgangsbeschränkungen ++ #flatten the curve ++ Wege zur Arbeit zur Apotheke zum Arzt sowie Bewegung an der frischen Luft sind noch erlaubt ++ China ++ die John-Hopkins Universität hat andere Zahlen als das Robert Koch Institut ++ die Provinz Hubai ++ das sind Regeln keine Empfehlungen ++ Norditalien ++ Hilfspakete für die Wirtschaft ++ Hilfspakete für Selbstständige ++ die aktuellen Maßnahmen verschaffen uns Zeit ++ Klatschen um neun ++ Ode an die Freude ++ wer systemrelevant ist verdient es auch anständig bezahlt zu werden ++ der österreichische Skiort Ischgl ++ Händewaschen ++ Quarantäne ++ Social Distancing ++ Kontaktsperre ++ 1, 5 Meter ++ es fehlt an Schutzkleidung in Deutschland ++ Zustände wie in Italien ++ Nudeln und Klopapier ++ Homeoffice ++ #staythefuckhome ++ wir sind leider alle ein wenig zu sehr in Christian Drosten verliebt und er wahrscheinlich leider ein wenig zu wenig in unsi ++ entscheiden wen es sich noch zu retten lohnt ++ 713.171 Fälle bestätigt ++ 33.597 Todesfälle ++ die Bundesregierung sieht keinen Grund die Maßnahmen zu lockern ++ Orbán ruft Notstand in Ungarn aus ++ die Maßnahmen werden bis zum 19. April verlängert ++ die dunkelste Stunde der Menschheit ++ USA kaufen von Frankreich bestellte Masken auf dem Rollfeld weg ++ Bußgeldkatalog ++ Social Distancing Social Distancing Social Distancig ++ 1,5 Meter ++ Klopapier ++ #staythefuckhome ++ Berlins Innensenator Geisel sagt die Maßnahmen könnten bis zum Ende des Jahres andauern ++ 1, 5 Meter ++ Händewaschen Händewachen Händewaschen ++ the dance and the hammer ++ Jena führt die Schutzmaskenpflicht ein ++ 1.309.435 Fälle weltweit ++ 280.768 wieder gesund ++ 72.638 Todesfälle ++ die europäische Union steht vor der größten Bewährungsprobe seit ihrer Gründung ++ Spaniens Positivtrend bricht ab ++ Rekord-Todeszahlen in New York und Großbritannien ++ 1.407.123 bestätigt ++ 300.140 wieder gesund ++ 80.759 Todesfälle ++ ++ ++ ++ ++ ++ ++++ +++ ++ ++ +++ ++ ++++ ++ ++ ++ +++++++++++ ++ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +++++++++++++++++ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + ++++++++ +++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + ++++++ + + + + + + + + + + ++++++++++ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +++++++++++++++++++++++++ + + + + + + + + + + ++ + ++ ++ ++ +++++++++++++++++++++++++ + ++ + + + + + + + + + + + + + ++++++++ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + … . .... … … ………. . . . .. … .



III


„Die größte Krise seit dem zweiten Weltkrieg.“ Wort für Wort, Satz für Satz, Schlagzeile für Schlagzeile. Wir alle wissen, dass wir jetzt gut auf unsere eigene Psyche aufpassen müssen. Das Wissen hilft wenig. Die Nachrichtenflut wird nicht weniger. Tag für Tag türmen sich neue Schlagzeilen vor unseren Augen auf, die Zahl der Infizierten, der Todesfälle, der Tragödien steigt stetig an. Nicht langsam, aber sicher. Durch die Nachrichtenflut entsteht so ein neuer Wortschatz, der eine Sache mit dem Corona-Virus selbst gemein hat. Innerhalb von kürzester Zeit verbreitet er sich an allen Ecken und Enden der Welt. An die Geschwindigkeit, mit welcher dies geschieht, sind wir alle längst gewohnt: Schon seit über zwei Jahrzehnten sind Informationen das einzige, was schneller durch die Welt zirkuliert, als Kapital selbst. Verarbeiten konnten wir diese Beschleunigung des Weltgeschehens und des ihm zugehörigen Informationszyklus noch nie. Unser Mittel der Wahl war daher immer die Verdrängung. Doch das Corona-Virus zu verdrängen, ist schon lange keine Option mehr – vorausgesetzt, man legt irgendeinen Wert auf das Leben seiner Mitmenschen. Unser Bewusstsein, unser Denken, unsere Sprache, unsere Gespräche sind daher alle von denselben Begriffen durchtränkt. Wir alle wissen, dass wir uns um unserer eigener Gesundheit willen auch mal eine Auszeit von den Medien nehmen müssen. Aber auch die Auszeit macht die unwirkliche Situation nicht weniger wirklich. Das Corona-Virus sprengt unsere Vorstellungskraft. Je wörtlicher die Situation wird, desto schwerer fällt es uns, sie noch zu erfassen: Das Virus geht viral und die Schlagzeilen erschlagen uns. Kraus schrieb schon 1933: „Die Floskel belebt sich und stirbt drum ab. In allen Gebieten sozialer und kultureller Erneuerung gewahren wir diesen Aufbruch der Phrase zur Tat.“ii Selbstverständlich ist die faschistische Propaganda der Tat nicht identisch mit einem Virus, das sich durch globalisierte Warenströme zur Pandemie entwickelt. Dennoch sind Tat und Propaganda hier nicht so weit voneinander entfernt, wie man vielleicht denken könnte. Angesichts dieser „Untrennbarkeit des Wirklichen und des Wörtlichen“iii wusste sich schon Kraus nur noch mit der Sprachlosigkeit zu behelfen: „Mir fällt zu Hitler nichts ein.“iv – was wohlgemerkt der erste Satz von über 300 Seiten sorgfältig ausformulierter Sprachlosigkeit ist. Auch die heutige Situation – bei allen eklatanten Unterschieden zu jener, in der Kraus sich wiederfand – ist eine der Sprachlosigkeit: einer Sprachlosigkeit allerdings, die sich in inflationären Nachrichtenfeeds ausdrückt. Wenn die Corona-Krise wirklich die größte Krise seit dem zweiten Weltkrieg ist, dann ist es in erster Linie jene Sprachlosigkeit, welche uns mit Kraus und seiner Zeit verbindet; neben der realen Gefahr des Autoritarismus, versteht sich. Denn wie sehr wir uns auch bemühen, noch die letzte Gehirnzelle zu aktiveren, um endlich zu begreifen, dass das, was da gerade passiert, real ist – unsere Vorstellungskraft hinkt der Wirklichkeit stets hinterher. Wir können es einfach nicht fassen. Wir können es einfach nicht fassen. Wir können es einfach nicht fassen. Nein, auch Kursivierung und Wiederholung helfen da nicht weiter. Solange wir nicht in die simple Rhetorik des endlich wiedergefundenen Feindes verfallen, wird die Unzulänglichkeit unserer Wahrnehmungs- und Vorstellungskraft für die schon lange von realen Abstraktionen – wie Kapital, Staat, Markt – durchherrschte Wirklichkeit evident. Die Dritte Walpurgisnacht ist nicht der einzige und auch nicht der naheliegendste Text, in welchem wir daher nach passenden Worten suchen, um jene zu entschlüsseln. Es fühlt sich ein bisschen so an, als würden wir in einem Text von Foucault leben. Aber in welchem? Das wissen wir auch noch nicht so genau. Wir wissen nur, dass vieles von dem, was gerade passiert, auf eine komische Art und Weise vertraut klingt. Als hätten wir es schon einmal bei Foucault gelesen. „Parzellieren des Raumes: Schließung der Stadt und des dazugehörigen Territoriums; Verbot des Verlassens […] damit jedes Zusammentreffen vermieden wird. […] Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen. Jeder ist an seinen Platz gebunden. Wer sich rührt, riskiert sein Leben: Ansteckung oder Bestrafung. Die Registrierung des Pathologischen muß lückenlos und zentral gelenkt sein. […] Dieser geschlossene, parzellierte, lückenlos überwachte Raum, innerhalb dessen die Individuen in feste Pätze eingespannt sind […] dies ist das kompakte Modell einer Disziplinierungsanlage.“v Ist es das, was wir gerade erleben? Disziplinarmacht? Lassen sich die Maßnahmen der Regierungen so beschreiben? Natürlich droht niemandem in Deutschland, der sich den Disziplinarmaßnahmen widersetzt, die Todesstrafe. Doch es lässt sich kaum bestreiten, dass die nächste Stufe, das Panopticon, ein Modell ist, welches momentan eine gesamtgesellschaftliche Wirklichkeit zu werden droht. Nie war die Möglichkeit einer totalen Staat-Markt-Kooperation im Sinne des von Shoshana Zuboff analysierten surveillance capitalismvi so real wie in eben diesem Moment. Da hilft auch die DSVGO nichts mehr. Es lässt sich sicher darüber diskutieren, wie sinnvoll allerlei Arten von anonymisierten und/oder freiwilligen mobilen Trackingverfahren sind. Es lässt sich hingegen nicht darüber diskutieren, wie unfassbar gefährlich sie sind. Denn wenn man dem Kapitalismus einmal einen Eingriff in die Grundrechte erlaubt, dann lässt er sich den auch nicht so schnell wieder verbieten. Die panoptische Disziplinarmacht ist insofern eine sehr reale Gefahr innerhalb unserer Kontrollgesellschaft. Die Biomacht indessen ist lange schon mehr als Gefahr: biopolitisch hat der Staat längst in unsere Körper eingegriffen. Um zu illustrieren, was das bedeutet, braucht es nicht einmal mehr ein Zitat – es reicht, darauf hinzuweisen, dass die Tagesschau Tipps für Sex in Zeiten von Corona herausgegeben hat. Selten war die Lektüre Foucaults so aktuell. Selten war sie so nichtssagend.



IV


„Die größte Krise seit dem zweiten Weltkrieg.“ Wort für Wort, Satz für Satz, Schlagzeile für Schlagzeile. Wahlweise auch: „Die größte Herausforderung seit dem zweiten Weltkrieg“ – sagt Angela Merkel, sagt Markus Söder, sagen Politiker*innen wie Bürger*innen. Wer hätte gedacht, dass Angela Merkel in ihrer letzten Amtszeit noch einmal so historische Worte aussprechen würde? Noch Anfang des Jahres hätte sich niemand auch nur ansatzweise vorstellen können, die Gegenwart ernsthaft mithilfe eines Vergleiches zum zweiten Weltkrieg beschreiben zu können. „Ich bin 83 und habe so etwas noch nie erlebt“ – sagt meine Oma, die im zweiten Weltkrieg großgeworden ist. Wir alle können uns nur allzu gut daran erinnern, wie die mit einem historischen Zeigefinger erzählten Geschichten aus der Generation unserer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern stets begannen: „Also früher…“ und „Im Krieg…“ und „Als ich jung war…“. Die Gegenwart fühlt sich nach einer Geschichte an, die einmal als eine derart historische, nicht nur als narrative Geschichte erzählt werden wird. Ob man die eigene Generation, die Generation der Eltern, die Generation der Großeltern oder die Generation der Urgroßeltern befragt: Niemand kann sich erinnern, jemals so etwas erlebt zu haben. Wie lange wird es dauern, bis wir zu begreifen lernen, dass wir an einem Punkt in der Geschichte angelangt sind, der eine geschichtliche Zäsur sein wird? Heute wird die Zeit gewesen sein, in welcher Gegenwart zur Geschichte geworden sein wird. Warum ist das so schwer zu verstehen? Hat nicht schon Harald Welzer versucht, uns das Futur II ans Herz zu legen? Unsere Vorstellungskraft versagt nicht nur an dem Versuch, die Wirklichkeit der gegenwärtigen Situation zu begreifen – sie scheitert auch daran, die Corona-Krise als einen, wie auch immer gearteten, Wendepunkt in der Geschichte zu imaginieren. Woher kommt dieser Mangel an Phantasie? Die Antwort liegt im Begriff der Geschichte selbst. Seitdem das Ende der Geschichte ausgerufen wurde, haben wir verlernt, die Geschichte als einen Prozess der Gegenwart zu begreifen, welchen wir als Subjekte selbstbestimmt steuern können. Die Geschichte ist seitdem Geschichte. Wir lesen von ihr in Schulbüchern oder in Romanen, wir hören unseren Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern dabei zu, wie sie Geschichten darüber erzählen, wie das damals so war, als es die Geschichte noch gab, wir konsumieren Serien und Filme, in denen die Geschichte zu einer rein ästhetischen Frage, zu einer Modefrage hochstilisiert wird.vii Was all diese Vermittlungen von Historizität gemeinsam haben, ist, dass sie unsere reine Passivität in Bezug auf die Geschichte verkörpern. Von der Geschichte bleiben einzig Geschichten übrig. Seitdem das Kapital den Kampf um die Geschichte 1989 gewonnen hat, können wir nur noch stillschweigend dabei zuschauen, wie es sich auf dem ganzen Globus entfaltet. Gebannt vom Spektakelviii jenes globalen Kapitalismus starren wir also auf den Bildschirm und warten auf den nächsten Plottwist in der Geschichte. Es ist uns unmöglich geworden, jene über den halluzinatorisch-gegenwärtigen Horizont dieses Spektakels hinaus als einen aktiven und selbstbestimmten Prozess zu verstehen, an dem wir alle mitwirken können. Schon seit Jahren bemühen sich Klimaaktivist*innen darum, uns verständlich zu machen, dass unsere Zukunft in Schutt und Asche enden wird, wenn wir nicht endlich damit anfangen, zu verantwortungsvollen Akteur*innen der Geschichte zu werden. Aber es hilft nichts. Denn unser Verhalten lässt sich nicht durch einen Mangel an Informationen, Wissen oder Erkenntnis erklären. Wenn wir ganz ehrlich zu uns selbst sind, erscheint uns sogar nichts gewisser, als die Erkenntnis, dass wir direkt auf die Apokalypse zusteuern, wenn wir so weitermachen wie bisher. Doch wir haben so sehr verlernt, die Geschichte als einen von unserer eigenen Subjektivität getragenen Prozess zu begreifen, dass die einzige Art und Weise, wie wir mit der stetigen Drohung der Apokalypse umgehen können, ihr Konsum ist. Statt dafür zu sorgen, dass die Apokalypse nicht kommt, schauen wir ihr lieber dabei zu, wie sie sich in der nächstbesten Netflixserie entfaltet. Nur der Konsum der spektakulär erscheinenden Katastrophe verschafft uns noch den kurzen Kick der Katharsis, nach der wir uns schließlich alle irgendwie sehnen. Die Geschichte ist somit zu einem Spektakel geworden, das wir nur noch betrachten, konsumieren, kontemplieren, sogar noch kritisieren, niemals aber verändern können. Ob es um die Vergangenheit oder um die Zukunft geht: Wir können uns nur noch als Zuschauer*innen auf unsere eigene Geschichte beziehen. Das gilt insbesondere für die Generation, die nach dem Ende der Geschichte geboren wurde, für die Generation, die capital natives sind, für meine Generation. Geburtsjahr 1995: Die letzten der Millenials, die schon keine mehr sind, die Generation, für die weder Y noch Z gilt, die Generation, die sich nicht richtig zuordnen kann und irgendwie immer irgendwo dazwischen ist, die Generation, die über 90’s kids memes lacht, sich aber kaum noch an die 90er erinnern kann, die Generation, die sich allerhöchstens noch auf Harry Potter einig werden kann, die Generation, die noch nicht aus digital natives besteht, sich noch erinnern kann „wie das früher war so ganz ohne Smartphones als man noch draußen gespielt hat“ und trotzdem immer schon online war. Diese Generation kann sich nur noch an die Geschichten erinnern, welche ihnen über die Geschichte erzählt wurden. Ich erinnere mich z.B. daran, wie mein Vater mir einst erzählte, dass man sich die Wiedervereinigung von BRD und DDR früher niemals hätte vorstellen. Ich erinnere mich auch daran, wie er irgendwann 2015/16 erzählte, dass man sich früher niemals hätte vorstellen können, wie es jemals wieder Krieg in Europa geben sollte – seit dem europaweiten Aufschwung der Neuen Rechten wohnt dem jedoch ein bitterer Beigeschmack inne. Ein Hauch von Geschichtlichkeit wird darin erahnbar: was sicher schien, ist instabiler als gedacht. Doch unsere Sinne sind schon lange zu abgestumpft, um die Wirklichkeit der hierin wohnenden Gefahr als historische Aufgabe wahrzunehmen und ihr wenigstens durch ein radikal europäisches Europa, durch eine die Währungsunion transzendierende soziale Union entgegenzuwirken. Diese Paralyse des historischen Bewusstseins und der utopisch-transzendierenden Kraft geschichtlicher Imagination wirkt generationsübergreifend. Natürlich erlebten wir alle 09/11, den war on terror, die Agenda 2010, die Finanzkrise 2008, immer wieder den war on terror, die sogenannte Flüchtlingskrise, Trump, den Rechtsruck in Europa, den Klimawandel, eben all die semi-apokalyptischen Krisen, die der Kapitalismus der letzten 30 Jahre so zu bieten hatte. Doch keine dieser Krisen hat die TINA-Mentalität (There is no alternative), den stillschweigenden Glauben, dass wir eigentlich schon in der besten aller möglichen Welten leben und deswegen auch nichts Grundlegendes verändern müssen, ins Schwanken gebracht. Das politische System – das System, von dem heutzutage sehr viel gesprochen wird – die marktkonforme Demokratie, ist geblieben und immer nur noch marktkonformer geworden. Für die Generation, die nach dem Ende der Geschichte geboren wurde, für die capital natives, für unsere Generation ist die Corona-Krise deswegen der erste Moment in unserem Leben, in dem wir merken, dass sich die Gesellschaft, in der wir leben, tiefgreifend verändern kann. Der Kapitalismus wurde uns von Kindheitsbeinen an als die einzig funktionierende, notwendige, beinah natürliche Form der Vergesellschaftung verkauft. Es hieß immer, es ginge nicht anders. Es hieß immer, er sei nun einmal das beste System, das wir haben. Es hieß immer, es sei kein Geld dafür da. Und jetzt beschließt der Staat plötzlich von einem Moment auf den anderen, das Akkumulationsregime des Kapitals zu entmachten und die politische Kontrolle wieder selbst in die Hand zu nehmen. Alle Regeln scheinen auf einmal außer Kraft gesetzt zu sein. Unsere Vorstellungskraft versagt, weil wir zum ersten Mal seit 30 Jahren erleben, wie die globalen gesellschaftlichen Strukturen, in welchen wir leben, in ihren Grundfesten erschüttert werden. Unsere Vorstellungskraft versagt, weil wir zum ersten Mal seit 30 Jahren nicht mehr wissen, wie die globale Zukunft aussehen wird. Unsere Vorstellungskraft versagt, weil wir nach 30 Jahren globalisiertem Kapitalismus fast schon selbst angefangen hatten zu glauben, dass die Politik den Gesetzen des freien Marktes völlig willenlos unterworfen ist. Doch jetzt merken wir auf einmal, wie viel Macht Nationalstaaten haben können, wenn sie denn nur wollen. Für die Demokratie kann diese Ermächtigung der Nationalstaaten eine große Gefahr sein, wie uns (proto-)faschistische Staatsoberhäupter weltweit demonstrieren. Es liegt an uns, dies zu verhindern und unsere Zeit stattdessen als radikale und emphatische Wiedergeburt der Demokratie in die Geschichte eingehen zu lassen: Zum ersten Mal erfährt die Generation der capital natives, zum ersten Mal seit 30 Jahren erfahren wir alle Geschichte als Gegenwart, als eine unvollendete Wirklichkeit, die uns umgibt, in der wir leben, an der wir teilhaben, auf die wir einwirken können – als einen gesellschaftlichen Prozess, dessen Verlauf wir durch unser kollektives gesellschaftliches Handeln selbst bestimmen können. Die Geschichte wird Gegenwart, die Gegenwart wird Geschichte. Eine fast peinlich offensichtliche Dialektik, die wichtiger nicht sein könnte. Wir können es uns nicht leisten, sie wieder zu vergessen. Wir können es uns nicht leisten, die Kontrolle über unser Leben nach dem Corona-Virus wieder abzugeben – weder an das Kapital noch an den Rechtspopulismus.



V


„Die größte Krise seit dem zweiten Weltkrieg.“ Wort für Wort, Satz für Satz, Schlagzeile für Schlagzeile. Es hat etwas Zynisches, die Corona-Krise mit diesen Worten zu beschreiben. Beinah noch zynischer ist es, sie als die größte Herausforderung seit dem zweiten Weltkrieg zu bezeichnen. Als wäre man den Herausforderungen der letzten 75 Jahre auch nur ansatzweise gerecht geworden. Wer die Corona-Krise als die eine Krise versteht, welche uns ohne Vorwarnung von der besten aller möglichen Welten in die apokalyptischste aller möglichen Welten katapultiert, hat in den letzten 75 Jahren offensichtlich nicht richtig aufgepasst. Das Corona-Virus speist sich von all den Krisen, mit welchen der Kapitalismus die Welt in den letzten Jahrzehnten versorgt hat. Durch die Corona-Krise explodiert der apokalyptische Krisencocktail, welchen das Kapital höchstpersönlich aus all den Produktionsmitteln zusammengebraut hat, die es fleißig für seine eigene Vermehrung hamstert. Nachdem unser Gesundheitssystem jahrelang ausgebeutet, zusammengespart, wegrationalisiert und auf Profit hin getrimmt wurde, müssen wir jetzt den Preis dafür zahlen. Und beginnen unter Schmerzen zu verstehen, dass dieser nicht in Geld, sondern in Menschenleben beglichen wird. Am härtesten trifft das Corona-Virus jedoch all die Menschen, welchen noch nie eine krisenfreie Zeit vergönnt wurde. Es ist mehr als tragisch, dass wir erst in Zeiten einer globalen Pandemie anfangen zu verstehen, welche dystopischen Zustände schon seit Jahrzehnten auf der Welt herrschen. Von dem Preis, welcher der von Kolonialismus und jahrhunderterlanger Ausbeutung gebeutelte globale Süden in der Corona-Krise deshalb noch zahlen wird, mögen wir gar nicht erst wagen zu sprechen. Es ist, als ob die ganze Welt in einer Berliner U-Bahn saß. Die Hilfeschreie waren nicht leise. Aber wir wollten sie nicht hören. Also, natürlich wollten wir sie hören. Aber wir konnten einfach nicht. Weil…wir waren ja auf dem Weg zur Arbeit! Oder auf dem Weg nachhause! Oder auf dem Weg in den Club! Oder auf den Weg zu sozialen Kontakten! Irgendwohin waren wir jedenfalls auf dem Weg! Weil…irgendwohin war man ja immer auf dem Weg! Irgendetwas hatte man ja immer zu tun! Und deswegen hatten wir leider auch alle keine Zeit gerade. Wirklich! Wir wollten ja gerne! Aber wir hatten einfach keine Zeit! Also wirklich! Leider! Echt überhaupt gar keine Zeit gerade! Sorry! Wenn wir mal Zeit hätten, dann würden wir ja auch! Also wirklich! Echt jetzt! Aber wir hatten einfach keine Zeit gerade! Sorry! Wirklich so überhaupt gar keine Zeit! Leider! Muss man ja sagen! Wir hätten ja gerne! Aber gerade war es einfach wirklich ganz, ganz schlecht! Wir mussten dann jetzt auch mal weiter! Echt keine Zeit gerade! Sorry! Sorry! Sorry! Sorry. Sorry. Sorry. Sorry, sorry, sorry, sorry... Heute sitzt fast niemand mehr in einer Berliner U-Bahn. Heute ist niemand mehr sorry. Die Blasiertheit, die wir über die Jahre fleißig aufgebaut haben, um uns nicht von der Geschwindigkeit einer globalisiert-vernetzten Welt paralysieren zu lassen, wird langsam brüchig. Die Ignoranz, mit welcher wir unsere ganz persönlichen Wohlfühlmonaden von dem Leid auf der Welt abschirmten, kann keinen Schutz mehr vor Betroffenheit gewähren. Die Scheuklappen, die wir als essentials in unseren every day look integrierten, um uns überhaupt noch in der Welt bewegen zu können, haben keine 360° Funktion. Die Mauer aus healthy coping mechanisms, selfcare und me time, die wir errichteten, um uns innerhalb der konstanten Krise namens Kapitalismus noch irgendwie handlungsfähig zu fühlen, fällt in sich zusammen. Der Zynismus, mit welchem wir unsere Wahrnehmung der Welt abstumpften und von unserem Wissen um sie abgrenzten, ist nur noch eine offene Wunde. Natürlich ist es eine Farce, wenn wir jetzt auf einmal all die Menschen beklatschen und als Held*innen anpreisen, deren Forderungen nach fairer Entlohnung, menschlichen Arbeitsbedingungen und gesellschaftlichen Wertschätzung wir jahrelang nur mit einem süffisanten neoliberalen Grinsen begegnet sind. Dieselben Politiker*innen, die sich jetzt als Retter*innen in Not aufspielen und sich vor Dank an die systemrelevanten Berufsstände gar mehr nicht halten können, sind verantwortlich für unser heruntergewirtschaftetes Gesundheitssystem und die soziale Misere in eben jenen Berufsständen. Doch vielleicht lässt sich sogar aus dieser Farce noch Hoffnung schöpfen: Wenn sich die Geschichte, wie Marx schreibt,ix wirklich zweimal, einmal als Tragödie und einmal als Farce, ereignet, dann ist dies unsere Chance, die Geschichte diesmal tatsächlich enden und zugleich neu beginnen zu lassen. So beginnt hierzulande ein Diskurs rund um den Begriff der Systemrelevanz, welcher konsequenterweise in der Frage münden muss, ob das System, welches wir haben, dem Relevanten – dem, was wir wollen und brauchen – überhaupt gerecht werden kann. In den USA schließen sich Mieter*innen zusammen und beschließen kollektiv, die Mietzahlungen bis zum Ende der Corona-Krise auszusetzen; Arbeiter*innen streiken und solidarisieren sich so radikal, wie sie es seit Jahrzehnten nicht mehr getan haben. Und selbst Europas Vorzeigeliberalem, dem absoluten Liebling des freien Markts, Macron ganz persönlich, scheint es inzwischen zu dämmern, dass es ja vielleicht doch nicht ganz so gut ist, wenn die gesellschaftliche Grundversorgung zu hundert Prozent vom freien Markt abhängig ist. Das hier ist kein Appell, die Krise als Chance zu nutzen. „Die Krise als Chance!“ – das wäre ein zynischer neoliberaler Slogan der Selbstoptimierung, den wir ganz bestimmt nicht zum Leitfaden des sogenannten Krisenmanagements ausrufen wollen. Es ist vielmehr ein Appell, zusammen mit der Corona-Krise auch all die Krisen zu beenden, durch welche das Corona-Virus überhaupt erst zu einem solch apokalyptischen Szenario werden konnte. Vielleicht können wir nicht begreifen, was es bedeutet, inmitten einer Zeit zu leben, welche als die „größte Krise seit dem zweiten Weltkrieg“ betitelt wird. Doch wir können uns bewusst machen, dass das Ende der Geschichte mit dieser Krise endgültig Geschichte ist – und endlich wieder selbst bestimmen, wie es von hier aus weitergeht.




i Dies ist ein Zitat aus der ersten Folge von Tilman Rammstedts Kolumne „Der Quarantänetröster / Covid-19“, welche am 16.03.20 auf ZEIT ONLINE veröffentlicht wurde: https://www.zeit.de/kultur/2020-03/quarantaene-coronavirus-zeitvertreib-social-distancing. Letzter Zugriff am 07.04.20.


ii Kraus, Karl (1989): Die Dritte Walpurgisnacht. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 141.


iii Ebd. S. 14.


iv Ebd. S. 12.


v Foucault, Michel (2013): Die Hauptwerke. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 900 ff.


vi Vgl. zum Begriff des surveillance capitalism: Zuboff, Shoshana (2019): The Age of Surveillance Capitalism: The Fight for a Human Future at the New Frontier of Power. New York: PublicAffairs.


vii Vgl. speziell dazu sowie insgesamt zum Begriff der Geschichte in der Postmoderne: Jameson, Frederic (1995): Postmodernism, or, the Cultural Logic of Late Capitalism. Durham, NC: Duke University Press. Z.B. ebd. S. 19.: „[…] nostalgia film was never a matter of some old-fashioned ‚representation‘ of historical content, but instead approached the ‚past‘ through stilistic connotation, conveying ‚pastness‘ by the glossy qualities of the image, and ‚1930-ness‘ or ‚1950-ness‘ by the attributes of fashion“.


viii Vgl. zum Begriff des Spektakels: Debord, Guy (2013): Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Edition Tiamat. Z. B. These 30 und 34, ebd. S. 26 f.: „Die Äußerlichkeit des Spektakels im Verhältnis zum tätigen Menschen erscheint darin, daß seine Gesten nicht mehr ihm gehören, sondern einem anderen, der sie ihm vorführt. […] Das Spektakel ist das Kapital in einem solchen Grad der Akkumulation, daß es zum Bild wird.“


ix Vgl. Marx, Karl & Engels, Friedrich (1972): MEW Band 8. Berlin/DDR: Dietz Verlag, S. 115.